Kannibalismus

So, nun da das Thema bekannt ist, hier die letzte Möglichkeit, das Fenster zu schließen und sich lieber die Fotos von unserem Sonntagsausflug anzusehen.

Ich empfehle das

a) allen, die unter 16 Jahre alt sind

b) allen, die sich nervlich nicht so viel zutrauen oder vorschnelle Schlüsse ziehen

c) allen, die bald ins Bett gehen wollen

Wer weiterliest, tut das auf eigene Verantwortung.

 

Eigentlich ist es völlig unzureichend, das heute Erfahrene in dieses eine, kleine, nichtssagende Wort zu stecken. Das Wort ist zu kalt um auch nur ansatzweise auszudrücken, welches Entsetzen uns heute überkam, als Duncan uns - nicht besonders schonend - näheres zu der chinesischen Esskultur in ihren Extremen erzählte.

Es begann alles damit, dass wir ihn ausfragten, was für merkwürdige Sachen er bereits gegessen habe, bald jedoch waren wir bei exotischen, teuren, widerwärtigen "Delikatessen" angelangt - über Hunde und Schildkröten gelangten wir letztendlich bei "Affengehirn" an. Mir überkommt noch jetzt ein Schauder nach dem anderen und mein Herz pocht, wenn ich mir nur vorstelle, in welche Barbarei und Grausamkeit das ganze ausartet, denn Affengehirn wird "noch lebendig" gegessen, noch gewärmt von der Körperwärme des hilflos und vor lauter Angst am ganzen Leib zitternden und den Tisch mit dem runden Loch in der Mitte durch das sein Kopf gesteckt wurde - er sitzt unter dem Tisch, mit den Beinen und Armen an die Tischbeine gebunden - den Tisch zum Beben bringenden Affen. Nebenbei liegt ein Hammer und ein großes Messer bereit...

Ja, und der Affe lebt noch, wenn seine Schädelknochen bereits in viele Einzelteile zertrümmert wurden, das Gehirn mit dem Messer sorgfältig zerlegt wird. Langsam stirbt er, während viele mit silber besetzte Stäbchen aus allen Himmelsrichtungen nach seiner Gehirnmasse stochern, ihm Stück für Stück jeden Funken Verstand rauben, ihn genüsslich zwischen die Goldzähne ihrer Besitzer schieben. Ja, Goldzähne braucht es, denn einmal Affengehirn zu speisen kostet um die 30000 Yuan - 3000 €. So etwas gibt es jedoch nur bei den Kantonesen - zum Beispiel in Hongkong oder Guangzhou - versuchte Duncan uns zu beruhigen...

Was sich jedoch immer mal wieder findet, ist die eigentümliche eigenart mancher Chinesen, gerne einmal Menschenfleisch zu probieren - um den Horizont zu erweitern, weil sie alles andere bereits versucht haben? Ich weiß es nicht. Ein Lehrer Duncans soll diesen Wunsch tatsächlich einmal geäußert haben. Unheimlich. Und doch geht dies auf eine lange Geschichte zurück. Immer wieder in der chinesischen Geschichte gab es Zeiten, in denen die Menschen auf Menschenfleisch zurückgriffen. Es waren Zeiten bitterster Not und davon gab es in China immer wieder einige, denn unter fast jeder Herrschaft einer Dynastie gab es wieder und wieder Krieg unter den Chinesen, gefolgt von Hungersnöten und absoluter Armut. Und die Regierung konnte nicht helfen - selbst wenn sie gewollt hätte und noch nicht bereits wieder gestürzt worden wäre: Das Land war letztendlich wohl doch immer zu groß, gerade in Zeiten, in denen Reittiere das schnellste Fortbewegungsmittel waren. So wussten die Menschen sich nicht anders zu helfen, als einander zu essen. Tief im Chinesen verankert ist letztlich nur ein Gebot: Für das eigene Überleben zu sorgen. So tauschten Nachbarn ihre neugeborenen Kinder miteinander: Es war wesentlich einfacher, das Kind der Nachbarn vor sich auf dem Teller liegen zu haben als sein eigenes. So sorgten damals schon die Kinder auf grausame Art und Weise für das Überleben ihrer Eltern. Doch auch das Gegenteil war immer wieder der Fall: Wurde ein Mensch alt und hatte Söhne oder Töchter, so entschied er sich in jenen schweren Zeiten immer wieder für Selbstmord, nachdem er seinen bald toten Körper seinen Kindern zum Essen angeboten hatte - so sorgte er mit seinem Tod für das Überdauern seiner Familie durch die harten Wintermonate in der Hungersnot. Als am entsetzlichsten empfanden Ebru und ich jedoch die Geschichte von den zermalmten Kindern während der Qing-Dynastie. Erneut ging es dem Volk schlecht, noch dazu war die Geburtenrate viel zu hoch und so kam eine neue Art Nahrung in Mode - ich weiß nicht wie krank der Kopf sein muss, der sich diese Gräuel ausgedacht hat und wie krank jene gewesen sein müssen, die ihm nachgeeifert haben. war eine Frau schwanger, so wurde oft bereits mit offenen Armen auf das Kind gewartet - nur um es direkt danach zwischen zwei Mühlsteine zu legen und es zu zermalmen. Die Masse - eigentlich nur Blut - die dabei entstand wurde getrunken. So viele Frauen müssen damals an gebrochenen Herzen gestorben sein, wenn nicht der Hunger sie mit fortgerissen hat.

Es sind schreckliche Geschichten passiert, das stimmt. Es sind auch schreckliche Geschichten an anderen Orten der Welt geschehen, gerade wenn es Menschen schlecht geht. Oft werden sie totgeschwiegen, man will sich nicht erinnern, keine Verantwortung übernehmen. Das Duncan uns davon erzählt hat, zeigt doch auch seine kritische, wenngleich auch faszinierte und interessierte Einstellung gegenüber sein Land und seiner Kultur. Ich hoffe, keiner von euch verurteilt ihn dafür, es uns erzählt zu haben, ebenso wie auch keiner, der nicht selbst unter so schrecklichen Umständen gelebt hat, wie die Menschen damals, sich anmaßen mag, über sie zu urteilen. Es geschieht schnell, dass man sich aufgrund zu weniger Informationen ein völlig verzerrtes Bild macht, das letztendlich nichteinmal annähernd der wirklichkeit entspricht. Wir haben in den letzten Wochen so viel von Chinesen erfahren, dass wir dies als einen kleinen, wenn auch schrecklichen Bruchteil einer facettenreichen Wirklichkeit sehen können und wir haben auch schon genug Arbeiten aus vergangenen Zeiten gesehen, die von einer erstaunlichen Fortschrittlichkeit zeugen, sodass wir die Geschichte Chinas nicht als nur eine Abfolge von Grausamkeiten wahrnehmen können. China ist so widersprüchlich wie sonst vermutlich kein anderes Land der Welt, ich hoffe, dass das in meinen Artikeln schon das ein oder andere Mal deutlich wurde und hängengeblieben ist. Ich bitte euch alle, die bis hierher gelesen haben, dies zu bedenken, bevor ihr euch ein vorschnelles Urteil bildet, gleich, ob ihr die Chinesen nun allgemein als Menschenfresser oder als gebeuteltes, armes Volk, das sich nicht anders zu helfen wusste abstempeln wollt, überdenkt es gut. Und wenn es euch schwer fallen sollte, erinnert euch an Verbrechen, die an anderen Orten der Welt geschehen sind - warum nicht Auschwitz, zum Beispiel? - und fragt euch, in welcher Form dieses Erbe noch bei uns ersichtlich ist.

Weise Weisen

 

Heimat ist nicht

da oder dort.

Heimat ist in dir drinnen

 - oder nirgends.


Hermann Hesse